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Im Windschatten des Altmeisters
ESV Lok Zwickau: Nicolas Heinrich
„Er war mit seiner Erfahrung enorm wichtig für meine Entwicklung. Ich habe nicht nur das Radfahren von ihm gelernt, sondern Bodenständigkeit und Charakter!“ So spricht Ex-Bahnrad-Europameister Nicolas Heinrich über eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Person seines bisherigen sportlichen Lebens – und meint damit die ehemalige DDR-Radsportlegende Wolfgang Lötzsch.
Aus dieser tiefen Dankbarkeit heraus schenkte Youngster Heinrich Altmeister Lötzsch zum Weihnachtsfest sein Europameister-Trikot, das er im August 2022 bei den European Games in München völlig überraschend in der 4000m-Einerverfolgung auf der Bahn gewonnen hatte. Zwar hat der 21-jährige seinen Titel bei den Bahnrad-Europameisterschaften 2023 im schweizerischen Grenchen Anfang des Jahres wieder verloren, die auf mehreren Jahrzehnten langer Erfahrung basierenden wertvollen Ratschläge des 70-Jährigen Lötzsch werden ihn hingegen für immer auf seinem weiteren Karriereweg begleiten. Lötzsch sagt, das Bahnfahren sei eine wichtige Basis, um später als Profi auf der Straße Erfolg haben zu können. Insofern bildeten die kürzlichen Erfolge seines einstigen Schützlings die besten Voraussetzungen für eine große Karriere. Und seine Förderin Kristina Vogel attestierte Heinrich kurz nach dem Euro-Titel im vergangenen Jahr in BILD: „Hoch intelligent. Einser-Abi, interessiert sich für die Welt. Er liest lieber ein Buch statt PlayStation zu spielen“.
Eine weitere wichtige Grundlage für Heinrichs jetzigem Erfolg bilden die ersten Jahren seiner Mitgliedschaft bei der Radsport-Abteilung des ESV Lok Zwickau – dort beginnt seine Erfolgsgeschichte um 2014, als der gebürtige Chemnitzer Lötzsch von den ESV-Verantwortlichen als Nachwuchstrainer geholt wird. Seither hat sich der schon zu DDR-Zeiten beste Radsport-ESV des Ostens wieder zu einer vielversprechenden Adresse in der deutschen Radsportlandschaft entwickelt: aus der auf Jugendebene in den vergangenen Jahren bereits einige Deutsche Bahnrad-Meister hervorgegangen sind - dazu Medaillen bei Junioren-Welt- und Europameisterschaften. Aufgrund der guten Voraussetzungen beim ESV und auf dem Sportinternat in Chemnitz fokussierte sich Heinrich im Laufe seiner Jugend immer mehr auf die Bahn - auch wenn er einen Großteil seiner Rennen übers Jahr hinweg weiterhin auf der Straße bestreitet.
Weil dort langfristig betrachtet lukrativere Möglichkeiten bestehen, ist das Ziel von Heinrich - trotz seiner Erfolge auf der Bahn - die Teilnahme an den großen Straßen-Radrundfahrten wie der Tour de France oder dem Giro d'italia. Dies verriet der Ende April zur sächsischen Sportlerwahl des Jahres 2022 Nominierte im Gespräch mit Jochen Fischer vom VDES:
Ich bin früher im Verein geschwommen, bis ich dann im Alter von neun oder zehn Jahren in der Grundschule einen Aushang des ESV Lok Zwickau gesehen habe. Da mir damals das Schwimmen sowieso nicht mehr so viel Spaß machte überredete ich meine Eltern, dass ich in die Radsport-Abteilung des ESV eintreten durfte.
Früher gab es im Zwickauer Westsachsenstation ein Bahnrad-Oval, nach dem Umbau dann eine Art Beton-Oval auf dem ich anfangs trainiert habe. Bahnradfahren hat mir damals kaum Spaß gemacht, dennoch kamen mit der Zeit in den diversen Jugendmannschaften wie der U17 und U19 die ersten Erfolge, so dass ich dann irgendwann über das Sportinternat in Chemnitz auch in den deutschen Bundeskader gerutscht bin – so konnte ich mich in den vergangenen Jahren immer weiter auf die Bahn fokussieren. Mittlerweile habe ich die Probleme beim Bahnradfahren - beispielsweise das langsame Anfahren beim Start oder das Stehen – durch langjähriges Training überwunden, so dass es mir jetzt wirklich sehr viel Spaß macht.
Es ist vor allem die Geschwindigkeit, das ist schon atemberaubend, das empfinde ich jedes Mal wieder aufs Neue. Wenn man da mit 60 – 65 km/h die Bahn entlangfährt, das ist schon ein sehr cooles Gefühl. Auch das Puristische das im Bahnradfahren durch den minimalistischen, reduzierten Materialeinsatz zum Vorschein kommt, hat durchaus seinen Reiz. Daneben hat Radfahren für mich etwas Meditatives, bei dem man seinen Gedanken freien Lauf lassen kann und – zumindest auf der Straße – die Landschaft und Natur genießen kann.
Die Höhepunkte auf der Bahn sind zwar insgesamt weniger - in diesem Jahr die Deutsche Meisterschaft, die WM und vielleicht noch eine U23-WM für mich –, dennoch trainiert und bereitet man sich in erster Linie dafür vor. Die größere Anzahl an Rennen findet im Jahresverlauf aber nach wie vor auf der Straße statt. Die Wettkämpfe auf der Straße sind sehr wichtig, um die kontinuierliche Belastung auszutesten und sich dabei mit anderen zu messen – deshalb schaue ich auch immer, wie und wo welche Veranstaltungen bei mir in den Saisonplan passen könnten.
Der ESV ist natürlich mein Heimatverein, zu dem ich noch eine starke Bindung habe und auf den ich als Mitglied natürlich auch stolz bin. Ich treffe auch immer mal wieder die verantwortlichen Organisatoren der ESV-Radsportabteilung, die mich in meiner Jugendzeit begleitet haben - sei es am Rande von Radrennen oder bei anderen Gelegenheiten. Die prägendste Person für mich und auch für den Verein insgesamt war und ist natürlich Wolfgang Lötzsch, der mich das erste Mal in der U15 trainierte. Bei ihm habe ich sehr viel gelernt, er hat mir das Grundlegende des Radsports beigebracht und - vor allem - wie man taktisch geschickt Radrennen fährt. Auch was das Leben über den Sport hinaus betrifft habe ich einiges vom ihm mitbekommen, auch charakterlich. Vor ihm und seiner äußerst bewegten Lebensgeschichte - als gewissermaßen boykottierter Ausnahme-Athlet in der ehemaligen DDR - habe ich allergrößten Respekt. Er ist mein erster und wichtigster Förderer.
Kristina ist Trainerin bei der Bundespolizei im Olympia-Stützpunkt Kienbaum, wo ich regelmäßig trainiere, weil ich dort meine Ausbildung zum Polizeimeister mache – insbesondere in den Monaten von September bis Weihnachten arbeiten wir dort zusammen, gerade im kraft- und ausdauersportlichen Bereich werde ich dort adäquat auf meine Wettkämpfe vorbereitet. Seit Anfang des Jahres arbeite ich mit meinem aktuellen Trainer Robert Pawlowsky.
Mein aktuelles Team von rad-net Oßwald hat hier einen seiner Stützpunkte und auch der aus Weimar kommende Bundestrainer wohnt in der Nähe, so dass dort ein optimaler, zentraler Ausgangspunkt für die deutsche Radsport-Entwicklung entstand – ein spannendes Projekt, zudem konnte ich so eine wirklich schöne Stadt kennenlernen.
Ich denke, ein gewisses Tempo eine Zeitlang konstant hoch fahren zu können ist eine meine Hauptstärken, was gerade in der Einer-Verfolgung sehr wichtig ist. Diese „Tempofestigkeit“ dann am Ende der 4.000 Meter nochmals steigern zu können, hat mir gerade bei meinem Überraschungssieg in München, aber auch schon kurz davor – bei den Deutschen Meisterschaften - den Erfolg gebracht.
Der Erfolg kam auch für mich sehr überraschend. Dass ich dabei das aus meiner Sicht optisch attraktivste Meister-Trikot im Radsport gewinnen konnte, macht den Sieg umso schöner - auch wenn es von der Wertigkeit her natürlich noch wichtigere Trikots gibt, wie beispielsweise das des Weltmeisters. Dass ich mit dem Gewinn des EM-Titels einigen Förderern, Freunden und Bekannten, die all die Jahre an mich geglaubt haben, etwas zurückgeben konnte, freut mich am meisten. Der gestiegene Bekanntheitsgrad innerhalb der Radsport-Welt ist natürlich auch ein angenehmer Nebeneffekt, der einem weitere Türen öffnen kann.
Die Teilnahme an der Bahnrad-WM im August in Glasgow ist das Nahziel. Ein Herzenswunsch wäre dann noch die Teilnahme an der U23-EM und den Deutschen Meisterschaften im Straßen-Zeitfahren der U23 – zumal sich Bahnrad und Straße in keinem Fall ausschließen, in meinem Falle eher ergänzen. Über allem steht jedoch Olympia 2024 in Paris - diesem großen Ziel werde ich in der kommenden Zeit alles unterordnen. Natürlich werde ich auch weiterhin das Mannschaftsfahren auf der Bahn verfolgen. Ein Straßenprofi-Vertrag bei einem etablierten Radrennstall wäre natürlich ein Traum.
Ich lese gerne Literatur aller Art, quasi als Ausgleich zum Leistungssport – und, ob unterwegs oder zu Hause: trotz oder gerade wegen meiner vielen Reisen für die Radsport-Leidenschaft ist es mir auch in Zukunft wichtig, gute Freundschaften zu pflegen.